Magna Charta: Gegen königliche Willkür

Magna Charta: Gegen königliche Willkür
Magna Charta: Gegen königliche Willkür
 
Die berühmte Verfassungsurkunde Englands, die »Magna Charta (Carta) Libertatum«, die »große Freiheitsurkunde«, kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. In ihrer Erstfassung enthielt sie noch 63 Artikel und wurde im Juni 1215 von König Johann Ohneland in der Form eines einseitigen Privilegs ausgestellt, um einen drohenden Bürgerkrieg zu vermeiden. Vom Papst bald danach auf Drängen des Königs für nichtig erklärt, wurde sie erst nach dem Tode Johanns 1216 in einer auf 42 Artikel verkürzten und modifizierten Form wieder in Kraft gesetzt und, jeweils nach weiteren Änderungen, 1217 und schließlich 1225 von König Heinrich III. erneut bestätigt. In dieser letzten Version wurde sie als geltendes Recht anerkannt und schließlich auf Befehl Eduards I. 1297 in die neu geschaffene Serie der »Statute Rolls« aufgenommen.
 
 Der adlig-kirchliche Widerstand gegen die Krone
 
»Niemand kann ihm jemals vertrauen, denn sein Herz ist weich und feige.« Dieses wenig schmeichelhafte Urteil eines Zeitgenossen bezog sich auf Johann, der im Jahre 1199 seinem Bruder, Richard I. Löwenherz, als König von England nachfolgte. Der Protest, der in der Magna Charta zum Ausdruck kam, richtete sich jedoch weniger gegen Johann persönlich als vielmehr gegen bestimmte Erscheinungsformen eines seit den Tagen Heinrichs II. üblich gewordenen autokratischen Regierungsstils. Hiernach betrachtete es der König als sein gutes Recht, nicht nur die sich aus dem Lehensverhältnis ergebenden Leistungspflichten der Kronvasallen einseitig nach seinem Gutdünken zu bestimmen, sondern darüber hinaus auch durch einfache Willenserklärungen, ohne jede rechtliche Kontrolle, tief in die Rechte und den Besitzstand seiner Untertanen einzugreifen. Unter Johann uferte diese königliche Praxis in einem Maße aus, dass sie von den Betroffenen geradezu als ein neues System königlicher Willkürherrschaft empfunden wurde, das immer deutlicher vitale Interessen der Kronvasallen und des Klerus bedrohte. Dazu kam die glück- und erfolglose Außenpolitik des Königs. Von seinen Vorgängern hatte er die Feindschaft des französischen Königs Philipp II. geerbt, die als Hypothek auf den Ländern des »Angevinischen Reichs« lastete, also auf den Territorien, die Heinrich II., der Begründer der Dynastie Anjou-Plantagenet, in seiner Hand vereinigt und an seine Nachfolger vererbt hatte. Im Einzelnen handelte es sich dabei als väterliches Erbe um das Herzogtum Normandie und die Grafschaften Anjou, Maine und Touraine. Dazu kamen 1152 durch Heirat das Herzogtum Aquitanien, 1154 als mütterliches Erbe nach dem Tod König Stephans das Königreich England und bis 1173 die Kontrolle über das Herzogtum Bretagne und die Grafschaften Toulouse und Auvergne.
 
Philipp wirkte zwar, machtpolitisch gesehen, im Vergleich zu Johann eher wie ein »Zwerg«; als Lehnsherr des englischen Königs für dessen französische Besitzungen war er jedoch in der Lage, diesen in lästige Prozesse vor seinem Lehnsgerichtshof zu verwickeln. Dazu bot sich bald Gelegenheit, als Arthur von der Bretagne, der Sohn des inzwischen verstorbenen älteren Bruders Johanns, Gottfried Plantagenet, Ansprüche auf den englischen Thron erhob und sich dabei um Hilfe an den gemeinsamen Lehnsherrn, König Philipp, wandte. Zwar unterlag Arthur und starb unter ungeklärten Umständen in der Haft Johanns. Am Ende, 1204, gelang es jedoch König Philipp, nicht nur die Normandie, sondern auch alle mittelfranzösischen Besitzungen des englischen Königs nördlich der Loire in seine Hand zu bekommen. Einen weiteren Missgriff leistete sich Johann, als er im Streit um die Besetzung des Erzbischofsstuhls von Canterbury eine langwierige Auseinandersetzung mit Papst Innozenz III. provozierte. Während der Papst das Land mit der Kirchenstrafe des Interdikts belegte und den König exkommunizierte, hielt sich dieser an den romtreuen Klerikern schadlos, deren Kirchenbesitz er rücksichtslos für die Krone einziehen ließ. Zwar gelang es Johann, eine vom Papst initiierte Invasion Englands durch den französischen König noch im letzten Augenblick abzuwenden, indem er vor den päpstlichen Forderungen kapitulierte und seine Königsherrschaft vom Papst zu Lehen nahm; angesichts der Misserfolge und der immer maßloseren Fiskalpolitik sank jedoch sein Ansehen im Lande auf einen Tiefpunkt. Als im Juli 1214 endlich auch der letzte Versuch, dem französischen König die ehemals »angevinischen« Gebiete wieder zu entreißen, in der Schlacht von Bouvines scheiterte, formierte sich in Hochadel und Klerus eine Widerstandsbewegung, die entschlossen war, den König notfalls mit Gewalt zur Aufgabe seines despotischen Regiments und zur Anerkennung des alten Herkommens zu zwingen. Nachdem auch die Stadt London Partei für die Rebellen ergriffen hatte, erklärte sich Johann bei Runnymede, unweit von London, zu Verhandlungen bereit, deren Ergebnis dann in der Magna Charta beurkundet wurde.
 
 Vom feudalen Herrschaftsvertrag zum Grundgesetz
 
Historisch gesehen handelte es sich bei der Magna Charta nicht um die Vorwegnahme demokratisch-parlamentarischen Gedankenguts, sondern eher um einen feudalen Herrschaftsvertrag, der vor allem den Interessen der Kronvasallen und des hohen Klerus entgegenkam. So bezogen sich die meisten der Artikel auf das lehnsrechtliche Verhältnis zwischen König und Kronvasallen, wobei die einzelnen Bestimmungen darauf abzielten, die maßlose Ausweitung der Vasallenpflichten einzudämmen - etwa bei der Zahlung des »Schildgeldes«, einer Ablösungsgebühr für nicht persönlich geleisteten Militärdienst. Gleiches gilt für zahlreiche Artikel, die sich gegen die Missbräuche bei der Ausübung der königlichen Gerichtsbarkeit und regionalen Administration wandten. Entscheidend war jedoch, dass der betroffene, relativ kleine Personenkreis bereit war, die dem König abgetrotzten Regelungen als geltendes Recht auch für die eigenen Vasallen und Untervasallen anzuerkennen. Dazu kam, dass die Barone auch keine Probleme hatten, über ihre unmittelbaren Interessen hinaus auch Beschwerden anderer Gruppen aufzugreifen, was ihnen die Legitimität verlieh, praktisch für alle Freien im Lande zu sprechen. Allerdings sollte man dabei bedenken, dass zu Beginn des 13. Jahrhunderts nur ein kleiner Teil der Bevölkerung dem privilegierten Stand der Freien angehörte und damit auch von den zugestandenen Rechtsgarantien profitieren konnte, sodass die Magna Charta damals noch weit davon entfernt war, die Rolle eines fundamentalen Grundgesetzes für die englische Nation zu spielen. Dies sollte erst Jahrhunderte später eingeleitet werden, als im Zuge der Auseinandersetzungen des Parlaments mit dem Stuartkönigtum, die 1628 zur »Petition of Right« führten, einer der führenden Parlamentsjuristen, Sir Edward Coke, in der Magna Charta die Verbriefung fundamentaler Individualrechte sah, die jetzt vom Parlament gegenüber der Krone eingefordert wurden. Dabei stützten sich Coke und seine Anhänger vor allem auf die berühmte Rechtsschutzgarantie zugunsten aller Freien (Artikel 29 der Fassung von 1225), die bisher kaum beachtet worden war. Von nun an diente die Magna Charta nicht nur als Vorbild für spätere Gesetzesvorhaben wie die Habeas-Corpus-Akte oder die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, sondern wurde immer wieder als ein unverzichtbares, fundamentales Grundgesetz zur Wahrung der Freiheit des Einzelnen gegenüber staatlicher Willkür in Anspruch genommen.
 
Prof. Dr. Karl-Friedrich Krieger

Universal-Lexikon. 2012.

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